Bis vor wenigen Jahren war „Ubuntu“ für mich (Freddie Holzbrecher) die Open Source-Software des LINUX-Betriebssystems, und wer im Internet recherchiert, wird zunächst über Dutzende von Webseiten darauf verwiesen. Als ich bei einer Reise (2022) dieses T-Shirt von Thabang Mokoena fotografierte, bekam ich eine erste Ahnung von den tiefen Wurzeln dieses (süd)afrikanischen Wertesystems. Es hat mich nicht mehr losgelassen, ich begann zu recherchieren – und komme zur Einsicht, dass Südafrika – und auch der Lesedi Show Choir sowie das Bokamoso-Projekt ohne ubuntu nicht zu verstehen sind.
Szenen
Der Kapstädter Vorort-Zug Richtung Downtown ist in allerfrüh bis auf den letzten Platz
besetzt. Harte Holzbänke voller Menschen mit müden Gesichtern, im Mittelgang stehen Arbeiter mit ihren Fahrrädern. Hinter den schmutzigen Zugfenstern geht orangerot die Sonne auf. Der Blick fällt auf schäbige Behausungen entlang der Schienen, Wellblechhütten, staubige Straßen, graue Hauswände mit Graffiti.
Plötzlich beginnt jemand mit dem Klappdeckel des Müllbehälters einen Rhythmus vorzugeben, ein anderer Reisender nimmt den Rhythmus mit seiner Fahrradklingel auf. Menschen, die sich nicht kennen, beginnen miteinander zu singen, wiegen sich im Rhythmus, fühlen gemeinsam, werden wach, beflügeln sich gegenseitig, diesen Tag zu ihrem zu machen. Melancholisch, aber doch auch beseelt von einer größeren Gemeinschaft, die plötzlich spürbar wird (G.v.Lüpke, https://ethik-heute.org/ubuntu-die-afrikanische-kultur-des-wir/, S.2
Ein Forscher bot Kindern eines afrikanischen Stammes ein neues Spiel an.
Er stellte einen Korb voller Obst in die Nähe eines etwas entfernten Baumes und sagte ihnen, wer zuerst dort sei, gewänne die süßen Früchte. Als er ihnen das Startsignal gegeben hatte, nahmen sich die Kinder gegenseitig an den Händen und liefen so gemeinsam zum Baum.
Dort angekommen, setzten sie sich gemeinsam auf den Boden und genossen ihre Leckereien zusammen. Als der Forscher sie fragte, weshalb sie so gelaufen seien, wo doch jeder die Chance hatte, die Früchte für sich selbst zu gewinnen, antworteten sie:
„Ubuntu“ (das bedeutet) „ICH bin, weil WIR sind“ und erklärten dazu: „Wie könnte einer von uns froh sein, wenn all die anderen traurig sind?“
Abends im Restaurant des Lesedi Cultural Village bei Johannesburg, mal wieder Stromausfall, wir halfen uns zunächst mit Taschenlampen, dann mit Kerzen. Nach einiger Zeit gehen plötzlich überall wieder die Lichter an. Ein Freudenschrei. Plötzlich kommen zwei Küchenhelferinnen ins Restaurant und stimmen den Song „Hakuna matata“ (Hajo matata) aus dem Musical „Der König der Löwen“ an, ein Ohrwurm, den auch der Lesedi Show Choir im Standard-Repertoire hat. Plötzlich singen alle Südafrikaner mit, stehen auf, wir werden mit aufgefordert, in einer Polonaise durch’s Restaurant zu tanzen. Angestoßen durch die beiden Frauen entsteht plötzlich ein Gemeinschaftsgefühl und eine fröhliche Stimmung.
Zu einer Stadtrundfahrt in Johannesburg gehört der Besuch des Constitution Hill, wo Ende des 19. Jahrhunderts das Old Fort errichtet wurde, das vom Apartheid-Regime als Gefängnis genutzt wurde. Wo u.a. Mahatma Gandhi und Nelson Mandela gefangen gehalten wurden, zeigt heute das Museum die KZ-ähnlichen Haftbedingungen. Direkt daneben – und erbaut aus den Backsteinen des Gefängnisses – erhebt sich das Gebäude des Verfassungsgerichts der Republik Südafrika, ausgestattet mit zahlreichen Werken moderner Kunst. Der Versammlungsraum ist so gelegen, dass die Richter die Straße sehen können, - laut Guide „damit sie den Kontakt zum Volk nicht verlieren“.
Ubuntu prägte den unglaublichen Versöhnungsprozess, den v.a. Nelson Mandela und Desmond Tutu nach der Apartheid in Südafrika in Gang gesetzt haben – und damit auch die Verfassung. Weltweit war ein Rachefeldzug der Schwarzen gegen die Weißen befürchtet worden Im Geist von Ubuntu gelang eine friedliche Transformation über die Aufarbeitung der Verbrechen des Apartheidregimes in der „Wahrheits- und Versöhnungskommission“. Ubuntu ist zu einer Kraft geworden, die von der Ebene der staatlichen Verfassung Südafrikas bis hinein in den Alltag solidarischer Nachbarschaftshilfe prägend geworden ist.
Ubuntu hat in den Regionen südlich der Sahara eine Jahrtausende alte Tradition unter den Bantu-Völkern, wurde über Geschichten, Lieder und Tänze mündlich weitergegeben und regelte das soziale Miteinander zwischen Jung und Alt, Mann und Frau, Mensch und Natur und zu den höheren Wesen. Es bedeutet „Menschsein“ in einem sehr umfassenden Sinn. Sprachgeschichtlich enthält es Elemente von Körper, Atem / Leben / Seele, Vitalität / Energie, Kopf / Gehirn und Sprache. Ubuntu beinhaltet auch einen Anspruch, wie man sich anderen gegenüber verhalten soll – und wurde damit zu einer ethischen Grundformel im sozialen Zusammenleben.
Zum Kern des Ubuntu-Wertesystems gehört die Vorstellung von Verbundenheit und guten Beziehungen zwischen den Menschen, zu anderen Lebewesen – Tieren und Pflanzen – sowie zu den Ahnen bzw. einem göttlichen Wesen. Im Geist des Wir, der Menschlichkeit, Empathie und der Solidarität wird Nahrung und auch Wissen geteilt, der gemeinsame Tanz und die Musik drücken diese Verbundenheit aus und lassen Gemeinschaft und Lebensenergie erfahrbar werden. Die eigene Identität definiert man nicht über das (singuläre) Ich, sondern darüber, dass man in Beziehung zu anderen ist. „Wir sagen, du musst dich bemühen, alles zu sein, was du sein kannst, damit ich alles sein kann, was ich sein kann“ (Desmond Tutu). Der Satz „Ich bin, weil du bist“[i] bringt es als erste Annäherung auf den Begriff, etwas allgemeiner formuliert „Ich bin, weil wir sind, und weil wir sind, bin ich“. Erst die Verbundenheit mit anderen Menschen und mit der uns umgebenden Natur macht uns zu dem, was wir sind.
In der Zeit der Apartheid in Südafrika wurde Ubuntu zur ethischen und spirituellen Kraftquelle des Überlebens der Schwarzen. Nelson Mandela und Desmond Tutu begründeten ihr politisches Handeln mit diesem ethischen Prinzip, und zehntausende zivilgesellschaftliche Initiativen in Südafrika definieren sich heute über dieses Konzept gemeinschaftlicher Verbundenheit und entwickeln Visionen eines gerechten Wirtschaftssystems, eines Rechtssystems, das Wunden heilt, eines solidarischen Sozialsystems oder einer gerechteren Verteilung von Eigentum. Sie fügen sich ein in das breite Spektrum von Bewegungen auf der ganzen Welt, die nach Alternativen suchen zum westlichen, im kolonialistischen Kontext entstandenen (individualistischen bzw. marktradikalen) Weltbild, das unsere Lebensgrundlagen zerstört[ii].
Im Kontext dieser politischen und sozialen Bewegungen spielt Kulturarbeit eine bedeutsame Rolle, denn vor allem über Musik, Tanz, Literatur oder Theater kann sich der Widerstand gegen soziale Ungerechtigkeit und Ungleichheit artikulieren - und zugleich die Rettung des kulturellen Erbes sowie die Suche nach neuen Formen des Zusammenlebens. Nur über kulturelle Praxis entwickelt sich Identität, und insbesondere indigene Gruppen definieren sich oft über traditionelle (und oft vergessene) Wertesysteme[iii]. Diese sehr bedeutsame gesellschaftspolitische Perspektive von Kulturarbeit wird in Südafrika von einer Vielzahl politischer, sozialer und auch kulturpädagogisch aktiver Initiativen in die Alltagspraxis übersetzt, so auch vom Lesedi Show Choir mit Thabang Mokoena als seinem Leiter.
In ihrem Buch „I am because you are“ (S.138) plädiert Mungi Ngomane dafür, sich einem Chor anzuschließen, weil Musik nachweislich Kreativität, Wohlbefinden und Glücksgefühle vermittelt. Aber auch als Zuschauer fühlt man sich mit dem Chor als Einheit und spürt die verbindende Kraft. Bei keinem anderen Chor habe ich eine solche intensive Energie gespürt, die bei Proben wie bei Auftritten einen mitnehmen und elektrisieren. Ist es die Überzeugungskraft, die Persönlichkeit und Körperlichkeit der Sänger*innen? Ist es nicht auch ubuntu, die verbindende und tief spürbare (Lebens)Energie?
Wenn wir die Praxis des Chorsingens und die Chorsänger*innen selbst ins Blickfeld nehmen, kommt bei Gesprächen immer wieder die Aussage, der Chor sei für sie zu einer zweiten Familie geworden. Der Chor, der (fast) täglich probt, hat nicht nur eine hohe künstlerische Qualität entwickelt, sondern bietet vor dem Hintergrund des in vielerlei Hinsicht schwierigen Alltags im Township Ratanda (Heidelberg) Halt und Struktur, und die Erfolge bei (z.B. nationalen) Wettbewerben lassen sich vermutlich nicht nur durch die professionelle Chorleitung erklären, sondern auch mit dem Gemeinschaftsgefühl unter den Sänger*innen, mit dem gegenseitigen Respekt, der Menschlichkeit und der Erfahrung, dass man sich als Einzelne*r im Kontext der Gruppe entfalten und entwickeln kann – und dafür Unterstützung bekommt. Die Erfahrung von Anerkennung und Wertschätzung von außen wird damit zur Voraussetzung, dass jede*r Einzelne ein positives Selbstbild und Selbstwirksamkeit entwickeln kann: Nach unseren psychologischen Theorien kann sich so Resilienz entwickeln, eine Haltung und ein Wertesystem, das widerstandsfähiger macht in schwierigen Lebensverhältnissen. Die Entwicklung der eigenen Potenziale im Kontext der Gemeinschaft, um damit andere zu ermutigen, es ebenfalls zu tun: Der oben zitierte Satz von Desmond Tutu zu ubuntu klingt wie ein zentraler Grundsatz des Lesedi Show Choir: Hohe Ansprüche stellen, zu hohen künstlerischen Leistungen herausfordern und dabei die (Entwicklungs)Potenziale der Sänger*innen entdecken und fördern, - damit wird das Chorprojekt auch zu einem soziokulturellen Projekt, in dem die Lebensgeschichte(n) der Chorsänger*innen immer auch im Zentrum stehen. Und es war bei der Eröffnung des Bokamoso-Zentrums Mitte Februar 2024 beeindruckend, von ihnen zu hören, dass der Respekt und die Wertschätzung seitens der deutschen Projektpartner (Moko e.V.) auch als Basis angesehen wurde, sich selbst und andere im Chor wechselseitig respektvoll und wertschätzend zu behandeln Bokamoso lebt ubuntu!
Kommentierte Link-Liste
…für alle, die neugierig auf das Ubuntu-Konzept geworden sind – und keine Lust haben, sich durch die unzähligen Verweise auf das Linux-System zu kämpfen, wenn man „Ubuntu“ als Suchbegriff eingibt. Ein Tipp: Über die beiden Begriffe „Ubuntu Philosophie“ kommt man schneller zu brauchbaren Ergebnissen. Neben den beiden in Fußnoten aufgeführten Buchtitel hier eine Auswahl empfehlenswerter Webseiten, Dokumente bzw. Videos:
Eine gute und kompakte Einführung bietet eine Sendung aus der Mediathek des Bayrischen Rundfunks:
Sehr empfehlenswert sind auch die folgenden Texte zum Thema:
Für den Unterricht in der Grundschule hier ein Vorschlag und Materialien:
…und schließlich noch zwei Youtube-Videos zum Thema:
Freddie Holzbrecher
[i] Vgl. das Buch von Mungi Ngomane, einer Enkelin von Desmond Tutu, mit dem Titel „I am because you are“ (München 2019)
[ii][ii] Vgl. Ashish Kothari u.a., Pluriversum. Ein Lexikon des Guten Lebens für alle, Neu-Ulm 2023 (AG SPAK Bücher), online (gratis) verfügbar unter https://agspak.de/pluriversum/pluriversum_web.pdf , darin der Beitrag von Lesley Le Grange, „Ubuntu“ (S.285 ff)