Gleich zwei Anlässe motivierten mich, im Abstand von zwei Jahren noch einmal nach Südafrika zu reisen und vor allem nach Ratanda. Eva sollte ihren runden Geburtstag am 16. Februar 2024 auf Bokamoso feiern und zugleich das „Bokamoso Musical Home“ offiziell eröffnet werden. Es war eine gute Gelegenheit, mit eigenen Augen zu sehen, was sich dort in dieser Zeit verändert und weiterentwickelt hat, - und es lässt darüber nachdenken, warum man überhaupt reist.
Kapstadt und die Gardenroute, so ein klassischer Buchtitel für einen Südafrika-Reiseführer. Wer träumte nicht davon, diese Tour einmal zu machen. So auch wir, eine kleine Gruppe von Freundinnen von Eva und ich, ihr Bruder. Das Kap der Guten Hoffnung, ein Weingut, das quirlige und bunte Kapstadt, die südlichste Ecke des Kontinents in Cape Agulhas, Mossel Bay und der Addo Elephant Nationalpark nördlich von Port Elizabeth. Schöne Landschaften, keine Schlaglochstraßen, traumhafte Strände und die obligatorischen Wildtiere. Geht so Reisen? Für die meisten Südafrikatouristen offenbar, sie bleiben in ihrer weißen Bubble, die Schwarzen kommen nur als Putzhilfen oder Kellner*innen vor.
Heidelberg (Südafrika) hat seit mehreren Jahren eine Partnerschaft mit der gleichnamigen Stadt in Deutschland, sehen kann man das etwa im „Heidelberg Heritage Museum“, das nach eigenem Anspruch „offers a fascinating introduction to the history of South Africa“ (Website). Sicher ein Stück Kolonialgeschichte, interessant ist hier die Bilderwelt, die man sich dort von Deutschland und der Partnerstadt macht.
Zu einer Südafrika-Erfahrung gehört auch in unmittelbarer Nachbarschaft von Bokamoso ein Weißer, dessen Weltbild in der Apartheid steckengeblieben ist – und der wie viele weiße Grundbesitzer angesichts des expandierenden Townships Ratanda sich irgendwann anderswo niederlassen dürfte.
Wie nähert man sich an den Moloch Johannesburg an, die 60 km entfernte 4-Millionen-Metropole? Mit einem Hop-on-Hop-off-Bus? Nicht zu vergleichen mit einer Stadtrundfahrt mit Bruce, der mit großer Leidenschaft und Kenntnis Fremden seine Stadt zeigt, die das Zentrum des Gold- und Diamantenhandels ist. Schon von weitem sieht man rund um Johannesburg die riesigen weißen (und hochgiftigen) Abraumhalden, die Hinterlassenschaften der Minengesellschaften, die sich im Zentrum mit Glitzerbauten präsentieren. Der Zulu-Ausdruck für die Stadt heißt „Ort des Goldes“. Starker Kontrast hierzu die Stadtteile, in denen sich viele Migranten v.a. aus Zimbabwe niedergelassen haben. Eine solche Fahrt führt auch durch wohlhabendere Stadtteile, in denen die Bewohner ihre Anwesen mit hohen Mauern und Stacheldraht sichern. Zum Abschluss der Stadtrundfahrt führte uns Bruce zum Constitution Hill: Dort befand sich u.a. das zentrale Apartheid-Gefängnis, in dem u.a. Mahatma Ghandi und Nelson Mandela gefangen waren, - heute Sitz des Verfassungsrats. Welch eine Symbolik: Das Gebäude wurde aus den Backsteinen des Gefängnisses errichtet!
Bekannter sind sicher die „South Western Townships“, bekannt als „Soweto“, wo sich auch das Hector-Pieterson-Museum befindet, auch das ein Muss für Besucher, die sich für die Geschichte Südafrikas interessieren, hier speziell: für das Massaker an protestierenden Schülern am 17. Juni 1976.
Thabang führte uns in ein weiteres Township, Alexandra, ebenfalls ein Zentrum der Anti-Apartheid-Bewegung, wie man im Alexandra Heritage Centre anschaulich studieren kann. Von der dortigen Aussichtsplattform kann man auch das kleine Haus erkennen, in dem Nelson Mandela gewohnt hatte.
In unsere Erinnerung eingebrannt hat sich auch die Reaktion der Bewohner von Alexandra, als wir - weiß, schwarz und coloured - in unserem 15-er Bus durch die engen Straßen fuhren. Wir wurden mit Hallo begrüßt und bejubelt, einer fragte, ob bei uns alles in Ordnung sei…: Das haben viele noch nie gesehen, dass Menschen in dieser „Mischung“ in einem normalerweise nur von Schwarzen genutzten Bus fahren.
In unsere Erinnerung eingebrannt hat sich auch die Reaktion der Bewohner von Alexandra, als wir - weiß, schwarz und coloured - in unserem 15-er Bus durch die engen Straßen fuhren. Wir wurden mit Hallo begrüßt und bejubelt, einer fragte, ob bei uns alles in Ordnung sei…: Das haben viele noch nie gesehen, dass Menschen in dieser „Mischung“ in einem normalerweise nur von Schwarzen genutzten Bus fahren.
Der Schriftsteller Günter Kunert hat einmal geschrieben, wirkliches Reisen führe zu einer Verwandlung, eben dazu, dass man sich selber fremd wird, dass man etwa auch die Maßstäbe, mit denen man andere*s beurteilt, relativiert. Aber auch: dass man in Kontakt kommt mit fremden Lebensweisen, sich von ihnen berühren lässt. Solche Touren etwa nach Johannesburg, Soweto oder Alexandra hinterlassen „tiefere“ Spuren als die üblichen Touristenziele. Vor allem aber ein mehrtägiger Besuch auf Bokamoso: Wo bekommt man einen besseren Einblick in südafrikanische Lebenswelten ?! …und zugleich in ein Projekt, das vielfältige Perspektiven bietet?
Wir reisen, um verwandelt zurückzukehren: Eine so intensive Energie ist zu spüren, wenn der Lesedi Show Choir singt, vor allem auch, wenn man mitsingt und tanzt. Eine solche „Südafrika“-Erfahrung lässt alle Schönheiten einer Gardenroute verblassen.
Wer wie wir mitten in Ratanda in der Garage von Thabangs Elternhaus eine der fast täglichen Proben des Lesedi Show Choirs miterlebt hat, wird die Kraft der Musik und die körperlich spürbare Energie nie vergessen. Es fehlen die Worte, die vermitteln könnten, wie die Sänger*innen in und mit ihrer Musik leben – oder etwas pathetisch ausgedrückt: mit ihren Körpern das Leben feiern! Als Zuhörer bleibt einem nur das Gänsehautfeeling – und die einmalige Erfahrung, dass diese Energie aus tiefstem Herzen kommt. Immer wieder hört man, dass der Chor für die Sänger*innen zur zweiten Familie geworden ist. Mehr noch: ein soziokulturelles, kulturpädagogisches Projekt „at its best“.
Doch der Reihe nach: Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als durch Corona viele Mitglieder des Lesedi-Chors ihre Arbeit verloren hatten und Eva Geld sammelte, um ihnen das Überleben zu ermöglichen. Doch Thabangs Idee war es, ihnen eine längerfristige Perspektive zu bieten, etwa die Idee eines soziokulturellen Zentrums mit einem landwirtschaftlichen Projekt zu verbinden. Ein Dutzend Spender*innen ermöglichten den Kauf einer Farm. Chormitglieder sollten etwa durch Gemüseanbau, Hühnerzucht oder Näharbeiten auf der Farm Geld verdienen können, nachdem sie in Schnellkursen von Experten dazu qualifiziert wurden, die Musik-Band hatte schon wöchentliche Auftritte in der Heidelberg-Mall. Eine „Event-Hall“ sollte Probenräume für den Chor und die Band bieten, aber auch angemietet werden, um Einkommen zu generieren.
Wir konnten uns 2022 ein gutes Bild von der Aufbruchstimmung auf Bokamoso machen, und die Fotos der großen Aufräumaktion sowie die Interviews in der damals hergestellten Broschüre (siehe unten) zeigen diese als Momentaufnahme. In den zwei Jahren hat sich viel getan: Zum Geburtstags- und Eröffnungsfest im Februar 2024 sind sieben neue Gästezimmer entstanden, die Zimmer im Haupthaus wurden renoviert, insgesamt 20 Gästebetten. Dort gibt es nun auch ein Dach, durch das es nicht mehr regnet, und eine Photovoltaik-Anlage puffert die täglichen Stromausfälle im Land ab.
Vor zwei Jahren war Thabang noch der einzige mit Führerschein: Er war täglich viele Stunden unterwegs, u.a. um die Chormitglieder abends nach den Proben und Konzerten (aus Sicherheitsgründen) nach Hause zu fahren. Die Idee, anderen den Führerschein zu finanzieren, um Thabang zu entlasten, erwies sich als Volltreffer und zukunftsfähige Investition. Mittlerweile haben sechs Chormitglieder die Fahrerlaubnis, und einer hat damit nun auch eine Festanstellung bei einer Firma und eine berufliche Perspektive. Dagegen wird die Idee, über Gemüseanbau auf der Farm Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen, neu überdacht. Vielleicht war die in ferner Zukunft liegende Aussicht, damit Geld zu verdienen, nicht motivierend genug. Das Areal ist groß genug für neue Ideen, und wie bei vielen Projekten kann erst die Praxis zeigen, was geht – und was die Akteure vor Ort wollen. So wurde auch etwa der Probenraum für die Band in ein Gästezimmer umgebaut, auch die Lesedis singen nun erstmal anderswo, nachdem sich die (o.g.) Nachbarn beschwert hatten.
Joseph ist der handwerklich-technische und organisatorische Allrounder von Bokamoso, er bekommt auch ein regelmäßiges Einkommen. Dass er mit seiner Familie auf dem Gelände wohnt, ist auch aus Sicherheitsgründen von großem Vorteil. Wechselnde Chormitglieder (jeweils vier) bilden das CleaningTeam für Zimmer und Gebäude, auch sie werden von unseren Spenden bezahlt. Lebo, ebenfalls Chormitglied, macht Buchhaltung und Öffentlichkeitsarbeit (Social Media, PR).
Sehr erfolgreich hat sich die Zusammenarbeit mit Schulen entwickelt: 1200 Kinder an 12 Schulen im Alter von 7-12 Jahren werden derzeit auf den nationalen Schulchor-Wettbewerb im Juni 2024 vorbereitet. Sie studieren Lieder und Tänze und lernen Noten lesen. Thabang und sechs ältere Chormitglieder leiten diese Workshops, die dafür auch von Spenden (Moko e.V.) bezahlt werden: Eine mehrfache Win-Win-Situation!
Ratanda wächst und wächst…auch auf Bokamoso zu, so dass es vermutlich bald nicht mehr die großen Brachflächen zwischen den Siedlungen gibt, - eine Chance für den geplanten Kindergarten auf dem großen Areal und irgendwann auch mal die „Event-Hall“ als kulturelles Zentrum, als gelebte und lebendige Synthese von Kultureller Bildung und soziokultureller Entwicklung.
Aus einem beiläufigen Gespräch zwischen Eva und Thabang über Sexualaufklärung für seine pubertierenden Töchter hat sich eine Initiative entwickelt, die zukunftsweisend sein könnte: Am Vorabend unserer Abreise wurden die Lesedis in zwei geschlechtsgetrennte Gesprächsgruppen aufgeteilt, die mit Aisha bzw. Marvin über dieses weitgehend tabuisierte Thema sprechen sollten. Wir „Alten“ haben uns zurückgezogen, spürten aber aus der Ferne eine sehr intensive Gesprächsatmosphäre, bei den Männern wurde zu Anfang viel gelacht, Beiträge wurden mit Klatschen bedacht und dann wurden die Gesprächsphasen immer länger. Zum Ende der Gesprächsrunden nach 2-3 Stunden war eine so gelöste Atmosphäre spürbar, die Männer haben gesungen und getanzt…, dann kamen natürlich die Frauen hinzu. Schließlich wurden alle – wie sonst auch – mit den Autos nach Hause gefahren. Am Lagerfeuer haben wir dann erfahren, dass viel über sexualisierte Gewalt zu Hause gesprochen wurde. Diese Erfahrung des Sprechens über ein so stark tabuisiertes Thema und seine befreiende Wirkung sollte zur Schlussfolgerung führen, dass dies ein Auftakt für weitere solcher Gespräche war: Es ist eben ein Chor, der nicht nur (hochprofessionell) Lieder singt, sondern vor allem Erfahrungen von Gemeinschaft, von Kompetenz und Selbstwirksamkeit vermittelt, Erfahrungen persönlicher Stärke und Wertschätzung im Kontext der Gruppe: „Ich bin, weil wir sind“ könnte man die südafrikanische Ubuntu-Philosophie auf eine Formel bringen. So wird verständlich, dass der Chor vor dem Hintergrund der schwierigen Lebensverhältnisse im Township zum Hoffnungsträger wird: Hier gibt es Halt und eine Haltung wechselseitiger Wertschätzung, die für jede*n einzelne*n wie auch für den Chor eine einmalige Entwicklungschance darstellt – eine „Wertschätzungskette“.
Freddie Holzbrecher
Bokamoso
Haupthaus
Gästezimmer